Nachhaltigkeit und Resilienz in der Corona-Krise
Langfristperspektive
Das Corona-Krisenmanagement sollte sich nicht in defensiven ad-hoc-Maßnahmen erschöpfen, sondern Perspektiven aufzeigen, wohin sich die Gesellschaft entwickeln muss, um künftig bei multiplen Krisen robuster und resilienter zu sein. Dafür kann Nachhaltigkeit eine entscheidende Horizonterweiterung anbieten. Die Gesellschaft wird nach Corona eine andere sein. Es geht nicht darum, in den früheren Zustand zurückzukehren, sondern die Gesellschaft braucht eine innovative Zukunftsperspektive. Die Frage ist, wie gehen wir nachhaltiger aus der Krise heraus. Jetzt werden langfristige Weichen gestellt. Der Wiederaufbau sollte ein Umbau sein und nicht ein Streben danach, wieder alte Muster herzustellen.
Nachhaltigkeit muss in die Corona-Bewältigungsstrategien einbezogen werden, damit sich diese nicht in defensiven Ad-hoc-Maßnahmen verlieren, sondern eine langfristige Perspektive für eine resilientere und weniger krisenanfällige Gesellschaft haben. Dies gilt nicht zuletzt für die deutsche EU Ratspräsidentschaft in der zweiten Jahreshälfte 2020, die im Zeichen der Corona- Krisenbewältigung stehen wird. Sie sollte nicht nur defensiv gestaltet sein. In der Finanzkrise 2008/2009 haben wir es teilweise versäumt, den Umbruch für systemische Innovation zu nutzen mit der Folge, dass das Risiko einer wiederkehrenden Krise besteht. Es gilt, die Krise als Chance für einen Wandel zu nutzen. Nachhaltigkeit hat nur eine Chance, wenn sie nicht ein Luxusdiskurs für bessere Zeiten wahrgenommen wird, sondern sich problemorientiert als Change-Management ins Gespräch bringt.
Zielkonflikte
Es gibt auch substanzielle Zielkonflikte: So werden gegenwärtig alle finanziellen, politischen und gesellschaftlichen Ressourcen auf die Corona Bekämpfung umgebucht. Es ist wichtig, dass dabei langfristige Ziele sowie die Standards von Nachhaltigkeit, Demokratie, Transparenz und Solidarität nicht verloren gehen. Absehbar werden Ressourcen für Investitionen in Nachhaltigkeit beispielweise beim Umbau des Energiesystems fehlen. Es geht auch darum, in bzw. nach der Krise den Level zu halten. Zum Beispiel wird es nicht leicht sein, beim Öffentlichen Nahverkehr gleiche Akzeptanz zu erzeugen, da im Kontext von Corona viel Misstrauen gegen den engen Kontakt im öffentlichen Raum entstanden ist. Die Angst vor Kontrollverlust kann die Bereitschaft zum Wandel auch langfristig blockieren. Hinsichtlich der Abschottung von Grenzen wird es schwer sein, wieder Vertrauen und Offenheit herzustellen. Mögliche humanitäre Katastrophen (beispielsweise in Flüchtlingslagern) können die Gesellschaft langfristig lähmen. Es wird nicht leicht sein, die massive wirtschaftliche Überschuldung sowie die erhöhte Rate an Arbeitslosigkeit zu bewältigen. Im Krisenmodus werden manche Nachhaltigkeitsthemen als nachrangig erscheinen. Wird der Green Deal der EU zurückgenommen, weil die Ressourcen für die Corona-Bewältigung verbraucht sind?
Unmittelbare thematische Verknüpfungen
Es gibt ganz unmittelbare thematische Verknüpfungen von Corona-Krise und Nachhaltigkeit, beispielsweise im Bereich von Konsum, Globalisierung, Mobilität, Gesundheit oder dem solidarischen Schutz der Schwachen. Corona hat deutlich gezeigt, wie entscheidend Präventionsmaßnahmen zur Bekämpfung von Krisen sind. Das hat viel mit dem Konzept von Nachhaltigkeit zu tun, insofern man diese als Übergang von der Nachsorge zur präventiven Problembehandlung sowie vom Einzelproblem-Management zur systemischen Sicht definieren kann. Nachhaltigkeit ist gewissermaßen die konzeptionelle Antwort auf die Corona-Krise. Das muss deutlich gemacht werden. Es gilt disruptive Veränderungen für den Übergang zu anderen Systemdynamiken zu nutzen. Krisen haben immer auch ein hohes Mobilisierungspotenzial für Veränderungen. Die Corona-Krise ist eine Zeit des radikalen Wandels. Alles dreht sich darum, vom Modus des Wandels by desaster zum Wandel by design zurückzufinden. Das ist auch in Tiefengrammatik von Nachhaltigkeit. Möglicherweise sollten wir konzeptionell lernen, Nachhaltigkeit eher im Sinne des Suffizienzdreiecks (anders – besser – weniger, Konsistenz – Effizienz – Suffizienz) zu interpretieren als mit dem traditionellen Zieldreieck einer vermeintlichen Gleichrangigkeit von Ökologie, Ökonomie und Sozialem. Jedenfalls ist die Corona-Krise ein Härtetest für weniger idealistische Nachhaltigkeitskonzepte, die unter ökonomisch prekären Bedingungen voran zu bringen sind.
Der Umgang mit der Corona-Krise hat drei Ebenen: Erstens akutes Krisenmanagement, zweitens die Antwort durch Konjunkturprogramme, damit Wirtschaft und Gesellschaft nicht in der Krise zerfallen, drittens ein Umbau der Gesellschaft, damit diese künftig resilienter und robuster ist. Alle drei Ebenen haben strukturell etwas mit Nachhaltigkeit zu tun. Wichtig ist auch: Problemhierarchien in komplexen Systemen einschätzen zu lernen, d.h. positive Rückkopplungsprozesse vermeiden, rechtzeitig handeln, systemrelevante Faktoren erkennen, bevor die Kontrolle entgleitet. Auch das ist eine wichtige Lektion, die wir in der Corona-Krise lernen können. Wie gehen wir künftig mit multiplen Krisen um?
Resilienz: an Krisen wachsen
Das Konzept der Resilienz sucht nach Faktoren, die Systeme, Individuen oder Gesellschaften befähigen, radikale Umbrüche zu überstehen oder sogar an ihnen zu wachsen. Katastrophale soziale Umweltbedingungen müssen nicht zwangsläufig zu einer desolaten Entwicklung führen. Es gibt immer wieder Menschen und Gesellschaften, die an Krisen wachsen. Schlüsselelemente sind dabei soziale und kulturelle Ressourcen der Kommunikation, Netzwerke von Solidarität, aber auch Fähigkeiten kreativer Verarbeitung widriger Erfahrungen (z.B. in der Kunst). Resilienzforschung beschäftigt sich mit psychischen, sozialen oder biologischen „Immunsystemen“: So wie sich ein Immunsystem erst entwickelt, wenn es mit Viren, Bakterien und Schmutz konfrontiert ist, brauchen auch soziale Systeme Störungen, um zu reifen und zu wachsen. Eine solche Reifung ist aber kein Selbstläufer, sondern entsteht aus Auseinandersetzung und gelingt nicht immer. Es gibt nicht wenige Menschen und Gesellschaften, die eine schwere Krise durchlebt haben und daraus verstärkt Empathie für die Nöte und Sorgen des Nächsten entwickelt haben. Religiöse und kulturelle Traditionen können helfen, die grundlegenden Einstellungen und Sinnmuster zu bestimmen, derer es bedarf, um mit einer solidarischen Perspektive nach Lösungen zu suchen und in Krisen zu reifen.
Potenziale
Der Umgang mit der Corona-Krise zeigt, wie in erstaunlich kurzer Zeit eine radikale Transformation der Gesellschaft möglich war bzw. ist. Eine so drastische Reduktion von Konsum, von internationalem Waren- und Personenverkehr wurden lange für unmöglich gehalten. Sie ist ein Experimentierfeld für Coping-Strategien im Umgang mit einem Phasensprung im Alltags- und Wirtschaftslebens. Viele entdecken digitale Kulturtechniken für Konferenzen, Internet-Teaching und persönliche Kommunikation sowie ein Kultur der Muße, der Erreichbarkeit, der „stabilitas loci“ und der familiären Nähe. Die drastische Reduktion des CO2-Ausstoßes ermöglicht das Erreichen von Klimaschutzzielen.
Die positiven und negativen Erfahrungen des Changemanagements sollten für die Transformationsforschung genutzt werden. Krisenbewältigung braucht einen großen Zusammenhalt der Gesellschaft, der sich teilweise sehr positiv und kreativ entwickelt hat, beispielsweise mit Nachbarschaftshilfe und enormem, weit über das Maß der Pflicht hinausgehenden Engagement der Pflegekräfte. Aber auch in der Bereitstellung großer finanzieller, sozialer und politischer Ressourcen sowie der der wissenschaftlichen und medizinischen Kooperation. Ein überraschend positiver Aspekt hat sich auch im politischen Bereich gezeigt: Populistische Politik, die die Probleme zu verdrängen suchte, wurde rasch entlarvt. Die Bereitschaft der Bevölkerung, harte Einschnitte mitzutragen, war und ist sehr hoch. Die gute mediale Berichterstattung hat einen Bewusstseinswandel erzeugt.
Die Corona Krise hat eine Konversionsdebatte ausgelöst, beispielsweise hinsichtlich der Frage, wo freiwillige Maßnahmen zielführend sind, oder wo sie effektiver politisch angeordnet werden können, wie beispielsweise in den USA in der Umstellung auf staatlich angeordnete Produktion für Beatmungsgeräte, Schutzmasken und Schutzkleidung. Auch in Deutschland ist möglicherweise die staatliche Erzeugung von Schutzkleidung effektiver, jedenfalls ist es misslich, wenn man in existenzieller Güterversorgung von internationalen Märkten abhängig ist, die in Krisenzeiten nicht zuverlässig sind. Solche Krisenerfahrungen sollten genutzt werden.
Die Corona-Krise hat eine neue Nachdenklichkeit in Bezug auf Lebensstile erzeugt. Sie ist ein breites gesellschaftliches Experiment radikaler Entschleunigung. Darin liegt ein großes Potenzial für Nachhaltigkeit, wobei zu unterscheiden ist, wo Elementen davon sinnvoll über die Krise hinaus beibehalten werden könnten, – beispielsweise in der Substitution von Konferenzen durch virtuelle Treffen – und wo es wichtig ist, das gesellschaftlichen Leben wieder zu intensivieren.
(Markus Vogt, in Anknüpfung an die virtuelle wpn2030-Konferenz am 31.3.2020 sowie das Buch: M.Vogt, Wandel als Chance oder Katastrophe, München 2019)